Ansprache
von H. Langen am 08. Nov. 1998
bei
der Gedenkveranstaltung zum 60. Jahrestag der Reichspogromnacht im
"Rundbau" der Schule
Sehr verehrte Gäste, liebe Schülerinnen und Schüler, meine sehr geehrten Damen und Herren !
Im Laufe des Jahres 1996 erschien in der hiesigen Presse ein Beitrag, der sich mit der Geschichte des Theatervereins in Rheidt beschäftigte. Er war von einem Neubürger verfasst, der - unter Bezugnahme auf ein altes Foto von 1926/27- unter anderem schrieb :
„Das alte Bild ... umfasst auch ein Stück verhängnisvoller und unbewältigter Rheidter Geschichte : Zu den Darstellern gehörte seinerzeit die jüdische Bürgerin Johanna Gottschalk. Sie war, wie vielen Alteingesessenen noch gut bekannt ist, eine begnadete Schauspielerin. 1936 wurde sie abgeholt. Über ihr weiteres Schicksal gibt es keine Informationen. Niemand hat sich bisher die Mühe gemacht nachzuforschen, was mit ihr geschehen ist."
Die hier erwähnte und für verschollen erklärte Johanna Gottschalk war sechs Jahre vor dieser Veröffentlichung hochbetagt in Krefeld verstorben, ihre Tochter Ruth dürfen wir mit ihrem Ehemann u. a. heute hier begrüßen.
Nun wollen wir uns nicht mit
falschen Federn schmücken - um dies herauszufinden, hätte
es unserer Arbeit nicht bedurft : ihr glückliches Überleben
war älteren Rheidtern - den zitierten Alteingesessenen - sehr
wohl bekannt und auch bei der Stadtverwaltung aktenkundig.
Dennoch
zeigt der Vorgang in für mich bezeichnender Weise, wie viel
Unkenntnis oder Halbwissen zu diesem Kapitel Niederkasseler
Stadtgeschichte zu verzeichnen ist, und in Hinblick darauf - so hoffe
ich - haben wir tatsächlich einiges aufarbeiten und erhellen
können.
Wir, das sind und waren Schülergruppen des
Kopernikus-Gymnasiums, die Zeitzeugen und Archive befragt,
recherchiert und dokumentiert haben. Das Ergebnis ist eine
Ausstellung unter dem Titel „Gewalt beendet keine Geschichte",
die wir hier am 27. Januar 1998 - am Tag der Befreiung des
Konzentrationslagers Auschwitz und bundesdeutschen Gedenktag an die
Opfer des Gewaltherrschaft - vorgestellt haben. Wir haben damit
gleichzeitig das Jubiläumsjahr „25 Jahre Kopernikus -
Gymnasium" begonnen.
Dass Bürgermeister und Rat der
Stadt unseren Vorschlag aufgegriffen, die Familien der Überlebenden
eingeladen und diese heutige Veranstaltung ermöglicht haben,
macht uns - trotz des ernsten Anlasses - gleichzeitig froh, dankbar
und auch etwas stolz, können wir nicht zuletzt auch unser
Jubiläumsjahr würdig abrunden.
Die erwähnte Ausstellung ist übrigens jetzt im Rathaus zu Gast - darüber freuen wir uns ebenfalls -, und wenn Sie sie noch nicht gesehen haben, möchten wir sie herzlich einladen, sie in den beiden kommenden Wochen dort anzuschauen. Und wenn einmal Heft 6 der „Niederkasseler Hefte" erscheinen wird, werden Sie darin gewiss eine ausführliche schriftliche Fassung finden.
Doch zurück zu Johanna Gootschalk. Sie hatte einen evangelischen Ehemann geheiratet und war selbst zum Protestantismus über getreten. So lebte sie mit ihrer Familie in Krefeld in einer - nach der Ideologie der Nationalsozialisten - gemischt rassigen Ehe und geriet im Herbst 1944 in existentielle Not, als die staatlichen Verfolgungsmaßnahmen auch auf diese Gruppe ausgedehnt wurden. Dass sie überlebte, verdankte sie zu einem guten Teil einer wildfremden Bäuerin namens Anna Tervoort, die sie bei sich aufnahm und ihr so lange ein Versteck bot, bis sie in den Wirren des Kriegsendes in einem Bunker am Krefelder Hauptbahnhof untertauchen konnte. Frau Tervoort wurde dafür für die Ehrung als „Gerechte" von Yad Vashem in Israel vorgeschlagen und wird hoffentlich bald als Anerkennung eine solche Medaille verliehen bekommen.
Diese Medaille hier ist jedoch nicht die für Frau Tervoort. Diese wurde einer Rheidter Familie dafür verliehen, dass sie sich ähnlich verhalten und eine ebenfalls aus rassischen Gründen Verfolgte über Jahre geschützt hat.
Diese Tatsache zeigt, dass es hier bei uns in Niederkassel zuging wie anderswo auch : einer recht kleinen Gruppe mutiger Menschen stand eine große schweigende Menge gegenüber, deren Verhalten wir heute missbilligen möchten und uns dabei doch fragen müssen, ob wir selbst denn wirklich zu den Mutigen gehört hätten ....
Freilich gab es auch hier - wie
anderswo - noch eine dritte Gruppe : jene der Täter.
Sie
standen Wache vor jüdischen Geschäften, sie diffamierten
deren Kunden, sie veranstalteten auf dem benachbarten Rheidter
Marktplatz Aufmärsche und bestückten den dort angebrachten
Schaukasten mit dem neuesten Exemplar der Hetzzeitschrift „Der
Stürmer" - und in der Nacht vom 9. auf den 10. November
1938 setzten sie das Gotteshaus der Juden aus Rheidt, Mondorf,
Bergheim und Sieglar, die Synagoge an der Provinzialstr. in Mondorf,
in Brand.
Leider existieren über diesen Vorgang keinerlei schriftlichen Unterlagen und die Beteiligten sind nie strafrechtlich verfolgt worden, sodass Herr Kreisarchivdirektor Dr. Linn nachher von seinem Zugang her - den Beständen der Archive nämlich - dazu nicht viel sagen kann.
Wir haben deshalb vereinbart, dass ich jetzt kurz das schildere, was sich sechzig Jahre nach der Tat von uns durch Befragung von Zeitzeugen noch ermitteln ließ :
Verschiedene Zeitzeugen haben
unter den Tätern Mondorfer erkannt; ein Zeitzeuge, der als Kind
den Brand beobachtete, will sechs Mann erkannt haben, die aus Mondorf
stammten; davon seien drei im Krieg gefallen, die drei übrigen
inzwischen verstorben.
Es waren nach seinen und anderen Angaben
aber auch Fremde in SA - Uniform dabei, die angeblich von
wohlhabenden Mondorfer NS-Leuten angeworben worden sein sollen.
Vor
dem Synagogenzugang von der Straße aus befand sich eine
Ziegelsteinmauer mit einem doppelten Eisentor. Dieses wurde von den
SA - Leuten im Schutze der Dunkelheit ebenso gewaltsam geöffnet
wie der Zugang zur Synagoge selbst.
Das hölzerne Inventar sei
dann vor die Türe der Synagoge geschafft und mit Benzin
übergossen worden. Danach sei, um es zu entzünden, mit
einer Pistole hinein geschossen worden.
Die Synagoge ist daraufhin
innen völlig ausgebrannt, der große Kronleuchter nach
Zeugenaussage verschmolzen und als Altmetall verkauft worden, und im
Dachstuhl sei - über dem Haupteingang - ein Loch entstanden.
(Der heute dort von der Meindorfer Straße aus deutlich
erkennbare und ausgebesserte Gebäudeschaden geht allerdings auf
Kriegseinwirkung zurück.)
Als Belohnung soll es anschließend
bei einem wohlhabenden Mondorfer Geschäftsmann, dessen Geschäft
sich in Synagogennähe befand, eine private Feier gegeben haben.
Dieser Bericht deckt sich in
weiten Teilen mit einer Schilderung von Heinrich Brodesser im
„Heimatbuch Rhein-Sieg". Er berichtet auch von einem
großen Menschenauflauf, an den sich die von uns Befragten aber
nicht erinnern konnten. Brodesser erwähnt ebenfalls die Fremden,
die für ihn aus Wuppertal gekommen sein sollen.
Obwohl wir
nicht beweisen können, dass die uns gegebene Information -
Herkunft der fremden Täter aus Siegburg bzw. (Siegburg -)
Seligenthal - richtiger ist, spricht doch einiges gegen die
Wuppertalthese, u. a. die Feststellung, dass überall dort, wo
Fremde im Spiel waren, diese aus plus minus 20 Kilometer Entfernung
stammten - also gerade so weit entfernt, dass sie damit rechnen
konnten, nicht erkannt zu werden.
Außerdem wurde in Rheidt
und Mondorf kein jüdisches Geschäft zerstört - hätten
SA - Leute, die 80 km Fahrtstrecke hinter sich hatten, nicht noch
viel mehr gewütet ?
Allerdings wurden auch in Rheidt
und Mondorf vier jüngere männliche Juden (Isidor Levy,
Jakob Wolff, Julius und Karl Frenkel, festgenommen und für
einige Wochen in Konzentrationslager verbracht. Sie kehrten Ende 1938
/ Anfang 1939 zunächst nach Hause zurück, um später
endgültig deportiert zu werden.
Am 17. August 1942 meldete
dann der hiesige Amtsbürgermeister Max Baumgärtl in
nüchternen Worten :
Die Juden meines Bezirks sind alle
evakuiert.
Die Sache hatte sich für ihn erledigt.
Meine Damen und Herren,
während wir hier am 27. Januar 1998 unsere Ausstellung eröffneten, hielt im Deutschen Bundestag Yehuda Bauer, der Vorsitzende des Internationalen Zentrums für Holocaust-Studien in Yad Vashem, wovon ich auch bereits sprach, eine Rede. Aus ihr möchte ich zum Abschluss gerne zitieren :
Das, was in Ruanda oder Bosnien
passiert ist (heute würde er sicher auch den Kosovo erwähnen),
ist nebenan passiert. Sich da des Holocaust zu erinnern ist nur ein
erster Schritt. Ihn und alles, was im Zweiten Weltkrieg an Rassismus,
Antisemitismus und Fremdenhass geschah, zu lernen und zu lehren, ist
der nächste verantwortungsvolle Schritt. Bei diesem Schritt sind
wir, Deutsche und Juden, voneinander abhängig.
Ihr könnt
die Erinnerungsarbeit nicht ohne uns bewältigen, und wir müssen
sicher sein, dass hier, woher der Holocaust kam, eine alt-neue,
humane, bessere Zivilisation auf den Trümmern der Vergangenheit
entstanden ist.
Wir zusammen haben eine ganz besondere
Verantwortung gegenüber der gesamten Menschheit.
Es gibt
vielleicht noch einen weiteren Schritt. In dem Buch, von dem ich
schon sprach (er wies auf die gemeinsame herausragende Bedeutung für
Juden wie Christen hin), stehen die Zehn Gebote. Vielleicht sollten
wir drei weitere Gebote hinzufügen.
Du, deine Kinder und
Kindeskinder sollen niemals Täter werden.
Du, deine Kinder
und Kindeskinder dürfen niemals Opfer sein.
Du, deine Kinder
und Kindeskinder sollen niemals, aber auch niemals passive Zuschauer
sein bei Massenmord, bei Völkermord und - wir hoffen, dass es
sich nicht wiederholt - bei Holocaust-ähnlichen Tragödien.
Ich hoffe, glaube und bin heute - in aller Bescheidenheit - eigentlich auch überzeugt davon, dass „Gewalt beendet keine Geschichte" hier bei uns in Niederkassel - in dieser Stadt und in dieser Schule - einen Beitrag auch in Yehuda Bauers Sinn hat leisten können.
Ich danke Ihnen.
"Gewalt
beendet keine Geschichte"
© 1999/2008 Kopernikus
Gymnasium Niederkassel