Ein Leserbrief von 1873
Aus Rheidt im Siegkreise Bürgermeisterei Niederkassel 28ten Nov.werden wir zur Aufnahme von folgender Zuschrift gebeten :
Am Samstag 22ten d. Mts. starb dahier die Ehefrau des zu Rheidt wohnenden Handelsmanns Isaac Cahn, Mutter von zehn unmündigen Kindern, welche bei allen Nachbarn und ordentlichen Bürgern in sehr gutem Rufe stand.
Nachdem es im hiesigen Orte bekannt wurde, daß selbige Montag Nachmittag 2 Uhr bestattet werden sollte, versammelten sich schon morgens gegen 12 Uhr sämmtliche Ultramontanisten hiesigen Ortes, Alt und Jung, sogar Eltern mit ihren Kindern, und belagerten das Haus förmlich, wo die Verstorbene lag. Erst fing man an mit Lachen, Schreien und Toben, dann wurde mit halben Ziegelsteinen auf Thür und Thor geschmissen, fand aber von innen von dem Leidtragenden keinen Widerstand, dann fing man an und warf zum Hofe hinein über einen Torbau, welcher 20 Fuß hoch ist, zertrümmerte die Dächer, warf gleichzeitig auf diejenigen Leute, welche im Hofe mit Anfertigung des Sarges beschäftigt waren, da bei uns gebräuchlich ist, daß der Sarg von uns selbst angefertigt wird, so daß diese sich in einen versteckten Raum flüchten mußten, um sich vor den Steinwürfen zu schützen. Nachdem nun die Thür geöffnet wurde, um die Leiche wegzubringen, fing das Geschrei und Getobe von neuem an mit dem Anrufe Et eß en Jüd gebasch ! Diejenigen, welche den Sarg zu tragen hatten, konnten mit knapper Noth durch die Menschenmenge hindurch kommen, sowie die Leidtragenden, welche den Sarg begleiteten. Der Zug wurde begleitet unter Lachen, Pfeifen und Steinwürfen 1 ¼ Stunde Weges weit bis zu der Stelle, wo die Leiche eingeschifft wurde, um nach dem Friedhofe gebracht zu werden. Das Merkwürdige ist hier noch zu erinnern, daß dem Herrn Vikar aus hiesigem Orte, welcher der Führer der hiesigen Ultramontanen Partei ist, und denselbigen am Morgen die Anzeige gemacht wurde, er möge doch die Güte haben, bei der Bestattung der Leiche etwa für Ruhe zu sorgen, weil man schon vorher zu befürchten hatte, daß dieser Zug von den Ultramontanen vollführt werden sollte. Aber wie sich an nichts störend ging derselbe mit lächelnder Mine durch den wütenden Haufen zwei bis dreimal längs dem Hause auf und ab spazieren.
Vorstehendes bitten wir Unterzeichnete, welche für die ganze Wahrheit einstehen, doch in ihre vermischten Nachrichten mitaufzunehmen, da wirfür alles dasjenige, welches gefordert wird, einstehen sollte. Sollte vielleicht die hochverehrte Redaktion noch nähere Mitteilungen wünschen, so bitten wir Sie sich an Isaac Cahn in Rheidt zu wenden.
S. Gottschalk,
Wolf Levy, Hirsch, Hirsch u. Jakob Levy, Simon Levy, Isaac Levy, ?
Cahn, Emanuel Cahn, Cossmann Levy
Im Auftrage sämtlicher
zeichnet hochachtend Samuel Cahn
Soweit der Text. An welche Zeitungsredaktion er gerichtet war und ob er gedruckt wurde ist nicht bekannt, da es sich um eine handschriftliche Fassung ohne entspörechende Vermerke handelt.
Einige Anmerkungen zum Inhalt :
Erst 1881 errichtete die Spezial-Synagogengemeinde Mondorf einen eigenen Friedhof. Zuvor waren ihre Toten auf dem jüdischen Friedhof in Schwarz - Rheindorf, jenseits der unwegsamen Siegmündung, bestattet worden, was die Einschiffung erklärt.
Die (Ultra-)Montanisten (jenseits der Berge = Alpen) waren eine katholische Gruppierung, die in der Zeit des ausbrechenden Kulturkampfes stark ihre Rom-Orientierung betonte und sich sehr konservativ zeigte.
Das Pfarrarchiv Rheidt enthält leider keine Informationen über diese Gruppierung oder den Vorfall.
"Gewalt
beendet keine Geschichte"
© 1999/2008 Kopernikus
Gymnasium Niederkassel